Zwergenmarsch im Land der Baumriesen – Eine Hommage an den Cape Scott Provincial Park

Mehrere hundert Kilometer sind wir in den letzten anderthalb Jahren durch Kanadas Natur gestreift, vielleicht auch schon über tausend, wir haben es nie so genau nachgehalten. In dieser Zeit haben wir eine Vielzahl unterschiedlicher Naturräume besuchen und durchwandern können: von den grünen, feuchten Küstenregenwäldern auf Vancouver Island, über hochalpine Geröllfelder in den Rocky Mountains, auf denen die Rufe der Pikas hallten, bis hin zu trockenen, gelbtönigen Graslandschaften im zentralen British Columbia. Wir möchten euch in den kommenden Berichten in diese spannenden und ergreifenden Gegenden entführen, wenn auch nur für einen kleinen Moment, damit ihr selbst sehen könnt, warum Kanadas Natur unsere Herzen so erfüllt. Wir haben viele kleine und stille Momente, aber eben auch furchteinflößende und monumentale Touren gemacht, auf denen wir Erinnerungen fürs Leben machen konnten, die wir nun mit euch teilen möchten. Das Beste kommt dabei in der Regel zum Schluss, aber ich möchte diese Regel in diesem Fall einmal über Bord werfen und deswegen werde ich mit der Wanderung beginnen, die für uns die größte Herzensangelegenheit war und die wie so oft ein Beweis ist, dass man Ausflüge noch so ausführlich planen kann, denn in der Regel kommt alles anders als erwartet. Folgt mir also heute in die weiten Wälder im Norden Vancouver Islands, wo wir mir Bären auf Tuchfühlung gegangen sind.

Der Cape Scott Provincial Park befindet sich im Nordwesten Vancouver Islands, er ist etwa 560 Kilometer von Victoria entfernt und erstreckt sich über eine Fläche von etwas mehr als 222 Quadratkilometern entlang der Pazifikküste. Auch wenn die Gegend noch so abgelegen erscheinen mag, die Ureinwohner Kanadas haben diesen Naturraum seit Jahrtausenden ihre Heimat genannt und zeichneten sich nicht nur durch ein Leben im Einklang mit der Natur aus, sondern auch durch eine vielfältige und reiche Kultur. Die drei Völker der Tlatlasikwala, Yutlinuk und Nakumgilisala bewohnten ursprünglich den Lebensraum an der nördlichen Spitze der Insel. Heutzutage haben sich diese Völker mit dem Volk der Koskimo vom Quatsino Sound unter dem Sammelbegriff der Nahwitti vereint und verteilen sich über sechs Reservate, wovon zwei sich im Cape Scott Provinzpark befinden. Wir danken an dieser Stelle den ansässigen First Nations, dass sie ihre Heimat mit uns teilen und uns die Möglichkeit geben, die wundervolle Natur zu genießen. Ende des 19. Jahrhunderts versuchten die ersten weißen, zumeist dänischen, Siedler ihr Glück im Norden der Insel, um dort mit Fischfang ihr Leben zu bestreiten, doch dieser Besiedlungsversuch scheiterte bereits um 1907. Ein zweiter Versuch wurde um 1909 gestartet mit Bevölkerungszahlen um die tausend Siedler in den besten Zeiten. Als für den ersten Weltkrieg Soldaten eingezogen wurden, war dies das Ende für die kleinen Siedlungen und sie wurden zu Geisterstädten. Im zweiten Weltkrieg wurde hier außerdem eine kleine Radar-Station errichtet, die von 1942 bis 1945 in Betrieb war. Heutzutage bleibt nur noch ein bemannter Leuchtturm, der 1960 errichtet wurde, um die Schifffahrt in diesen Gewässern sicherer zu machen, als einziges Zeichen der Besiedlungsversuche zurück.

Regentropfen glitten an den Scheiben hinab, nicht nur außen, auch innen rollten Kondenzwassertropfen am Glas herunter. Ich hatte gerade die isolierende Schaumstoffmatte von der Seitenscheibe unseres Autos entfernt und guckte schlaftrunken hinaus auf die grüne Wiese des kleinen Campingplatzes außerhalb von Port Hardy, auf dem die Kanadagänse bereits ihre leeren Mägen füllten. Immer wieder schien die Insel uns mit andauerndem Nieselregen zeigen zu wollen, warum auf ihr ein Küstenregenwald gedeihen konnte. Die Gänse störte es nicht und zugegeben ist man als Deutscher den Regen auch mehr als gewohnt und entweder lernt man ihn im Laufe des Lebens zu lieben oder zu meiden. Ich gehöre zur ersten Gruppe. Demnach fiel es mir auch nicht schwer mich aus der Wärme des kuscheligen Bettes im hinteren Teil unseres Geländewagens zu lösen, um zunächst das stille Örtchen aufzusuchen. Normalerweise hätte ich nun auch gleich das Frühstück im Schutz der offenen Heckklappe zubereitet, aber heute wollten wir uns in Port Hardy noch ein hochkalorisches Burger-Frühstück gönnen, bevor wir in die Wildnis aufbrechen würden. Wir hatten eine mehrtägige Wanderung weit entfernt von der Zivilisation geplant, zumindest weiter entfernt, als wir es in Deutschland und auch in Kanada bisher gewesen waren. Ich hatte die Wanderung seit Monaten geplant, hatte geträumt und war die Wege in Gedanken und Erzählungen bereits gewandert. Doch schlussendlich sollte der Traum vom North Coast Trail ein Traum bleiben, finanzielle Mittel für Wassertaxen und Shuttle-Busse, sowie eine Knieverletzung, die ich mir beim Snowboarden zuzog, rückten unser Ziel in unerreichbare Ferne. Doch der Traum blieb in unseren Köpfen und so entschlossen wir uns zumindest einen Teil des Weges auf einer mehrtägigen Tour zu erkunden.

Kevin genoss den vegetarischen Burger als Frühstücks-Leckerei sichtlich, oft muss er aufgrund meines Wunsches uns zur Aufrechterhaltung unserer Fitness, sowie der schlanken Linie möglichst gesund zu ernähren, seine Gelüste nach klassisch kanadischem Essen in den Hintergrund stellen. Ich gönnte ihm das Vergnügen, denn ich wusste, was uns bevorstand. Wir hatten unsere Rucksäcke bereits für die mehrtägige Wanderung gepackt, da wir unsere ultraleichten Matratzen und Schlafsäcke aber in Deutschlang gelassen hatten, verhieß unsere Gepäckzusammenstellung keinen Tragekomfort. Generell waren wir von den teuren Tagesrucksäcken, die wir uns noch in Deutschland gekauft hatten, nur wenig überzeugt. Die massiven Isomatten, die wir günstig gekauft hatten, waren nicht nur wahnsinnig schwer und klobig, sie hatten uns ebenfalls schon mehrfach im Stich gelassen. Ich hatte meine schon zum zweiten Mal umtauschen müssen. Doch alle unsere Reisen hatten uns gelehrt auf Komfort verzichten zu können und es ist wahrscheinlich auch kaum möglich die Wildheit der Natur zu genießen, wenn man sich nicht auch mit wenig zufriedengibt. Bevor wir nun aber endlich auf die sechzig Kilometer lange Schotterstraße ab abbogen schrieben wir noch einige Nachrichten an Bekannte, die uns vermisst melden sollten, würden wir nicht nach fünf Tagen wieder in die Zivilisation zurückkehren. Das war notwendig, denn sobald wir Port Hardy verlassen hatten, gab es keinerlei Mobilfunkabdeckung mehr und die Anzahl von Wanderern und Anwohnern in dieser abgelegenen Region beschränkte sich auf ein absolutes Minimum. Aufgeregt und voller Vorfreude nahmen wir jeden Baum und jeden Fluss und See auf der Fahrt in Richtung des Cape Scott Provincial Parks wahr, die Straße schlängelte sich scheinbar endlos durch die dichten Wälder und wir fühlten uns, als ob wir genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren: ein Gefühl, dass sie menschenleere Natur uns nur zu oft spüren ließ.

Bevor man den Cape Scott Provincial Park erreicht, muss man das kleine Örtchen Holberg durchqueren. Genaue Einwohnerzahlen sind schwierig zu nennen, da es in Kanada kein Einwohnermeldeamt, wie in Deutschland gibt. Es müssen aber zwischen 15 und 50 Einwohner sein, die in diesem abgelegenen Ort ihren Alltag bestreiten, die meisten von ihnen wahrscheinlich auch nur saisonal. Wir ließen das Dörfchen schnell zurück, denn wir hatten alles, das wir brauchten. Nur noch achtzehn Kilometer und wir hatten das vorläufige Ziel erreicht: der Parkplatz am Cape Scott Provincial Park. Nur wenige Autos standen hier verlassen herum und wir stellten unser motorisiertes Heim direkt neben einem Wagen ab, der entweder schweren Steinschlag oder einen kleinen Einbruch hinter sich hatte. Der Anblick trieb mich dazu an, eine kleine Nachricht an potenzielle Einbrecher zu hinterlassen, dass es in unserem Auto wirklich keine Schätze zu finden gab. Doch wenn jemand sein Glück versuchen wollte, hatten wir keine Chance das zu verhindern, nur das Bewusstsein, dass es wirklich nichts zu holen gab bei uns. Wir füllten noch schnell den nötigen Papierkram aus und steckten das Geld für die Benutzung des Parks in den Briefkasten der Parkranger, dann luden wir uns die schweren Rucksäcke auf. Ich band mir das Zelt vor die Brust, denn eine andere Möglichkeit hatten wir nicht mehr. Gekrönt wurde dieses Packesel-Outfit von einem Regencape, denn zu unserem Glück war es natürlich wieder mal am Schütten.  Wir waren bereit zum Aufbruch.

Der Provinzpark hat eine Vielzahl von Camping-Plätzen, designierte Plattformen oder Begrenzungen sollen die Menschen davon abhalten die fragile Natur zu sehr zu belasten. Der Ort, den wir uns für unsere erste Übernachtung ausgesucht hatten, war am Nels Bight Strand gelegen, ungefähr siebzehn Kilometer und knapp sechs Stunden Fußmarsch lagen nun vor uns. Zügig und hochmotiviert legten wir los, doch wir kamen keinen Kilometer weit als ein umgestürzter Baum eine schier unüberwindbare Barriere vor uns bildete. Doch nun half kein Stöhnen und Ächzen, wir luden uns wieder alles Gepäck von den Schultern und Kevin kletterte voraus, damit ich ihm unser Gepäck hoch reichen konnte. Es dauerte eine Weile, aber wir schafften es die Hürde gemeinsam zu bezwingen, die Mutter Natur uns vielleicht als kleinen Eignungstest ganz an den Anfang des langen Marsches gelegt hatte. Kein derartiges Hindernis sollte uns im weiteren Verlauf noch einmal so aufhalten, aber die matschigen Wege, auf denen riesige und tiefe Pfützen sich wie Seenplatten erstreckten, machten unser Vorankommen ohnehin zu einem mühseligen Unterfangen. Das feuchte Klima des Waldes schenkte uns dafür zahllose Begegnungen mit Fröschen und ähnlichen Kriechtieren, die das Wetter sichtlich genossen. Dicke Tropfen fielen uns von den hellgrünen Bartflechten auf den Kopf und auch die Farne glitzerten, als seien sie mit Diamanten besetzt. Nur zweimal kamen uns kleine Wandergruppen entgegen, außer eine kleine Begrüßung tauschten wir jedoch keine Worte. Es dauerte auch nicht lange, bis uns die Tagesrucksäcke wie Bleigewichte im Rücken hingen. Wir hatten nicht mehr als das absolut Nötigste gepackt: ein komplettes Wechseloutfit für jeden, Schlafsäcke und Isomatten, Zahnbürsten und Zahnpasta, Nahrung für die nächsten Tage in Form von Müsliriegeln und Fertigsuppen zum Anrühren, das Zelt natürlich, Kopflampen, Bärenspray und ein Erste-Hilfe-Set. Nur die Kamera war ein kleiner Luxus, den wir nicht zwingend hätten tragen müssen. Aber dennoch schmerzten uns die Schultern enorm, nachdem wir ungefähr die Hälfte des Weges geschafft hatten.

Etwa zur selben Zeit nahmen auch unsere Sichtungen von Bärenspuren im feuchten Matsch zu, man konnte leicht erkennen, dass es sich um frische Spuren handelte, da sie meist von einem dampfenden Haufen Kot begleitet wurden. Auch alle Spuren, die unsere Laienaugen als Hundefährten einordnen wollten, konnten hier nur von Wölfen stammen, da es im Park ein Hundeverbot gab. Bären, Wölfe und Berglöwen sind häufig gesehene Bewohner des Parks, ihre Anwesenheit ist mitunter der Magnet, der Wanderer in dieses abgelegene Naturparadies zieht. Wir sahen dennoch auf dem Hinweg nichts außer Spuren. Nach vielen Kilometern im dichten Wald und offenen Moorland erreichten wir endlich das lang ersehnte Ziel: der Campingplatz an Nels Bight hat zwei Plumpsklos, einige Stahlcontainer, in denen man seine Lebensmittel und geruchsintensive Kosmetikprodukte einschließen kann, um die Wildtiere nicht ans Zelt zu locken und einen nahegelegenen Bach, aus dem man Trinkwasser gewinnen kann, das man vor dem Genuss allerdings mit Chlor behandeln oder abkochen sollte. Davor erstreckt sich ein wahnsinnig langer weißer Sandstrand, wie man ihn nur in deutlich südlicheren Gefilden vermuten würde, eingerahmt wird er allerdings von dunkelgrünen Koniferen, nicht Kokospalmen. Ein ganzes Stück weiter östlich steht außerdem ein kleines Ranger-Haus, das allerdings nur in den Sommermonaten besetzt ist. Wir waren nicht alleine, als wir ankamen. In der Nähe des ersten Stahlcontainers bauten gerade zwei junge Frauen ihr Zelt ab. Wir fragten sie kurz, ob sie Bären gesehen hätten, doch sie verneinten. Wir gönnten ihnen also ihre Privatsphäre beim Zeltabbau und gingen zuerst in Richtung des Bachs, um uns Wasser für unser Abendessen zu besorgen. Wir ahnten nicht, dass dieser Pflichtgang nicht nur der Nützlichkeit diente, sondern uns auch eine unvergleichliche Begegnung bescheren würde.

Wir wanderten also am Strand entlang, das Meer war getrieben von starken Winden und die wilde Brandung sorgte dafür, dass man kaum ein Geräusch um sich herum wahrnehmen konnte. Obwohl die beiden Frauen uns gesagt hatten, sie hätten keinen Bären gesehen, war der Strand bedeckt von großen Spuren. Kevin war bereits sichtlich nervös, seine wenig umfangreiche Erfahrung mit Hunden oder ähnlichen Tieren machte die großen Raubtiere in seinen Augen wahrscheinlich noch umso unberechenbarer. Ich war gelassen, ich hätte diese Wanderung nicht angetreten, wenn ich mich nicht gut vorbereitet hätte. Und da stand er plötzlich: ein außergewöhnlich großer Schwarzbär ließ sich auf einer Insel in einem Bach die grünen Triebe des frischen Grases schmecken. Ein wunderschöner Anblick, mit dem wir beide in diesem Moment nicht gerechnet hatten. Während ich also versuchte möglichst gute Fotos von diesem Koloss mit meinem Smartphone zu schießen, drängte Kevin darauf, dass wir umdrehen sollten. Der Bär fraß hingegen ungestört und als ich sicher war, dass er nicht an uns interessiert war, uns aber definitiv bemerkt hatte, drängte ich Kevin nun zum Weitergehen. Wir hatten ohnehin keine Wahl, der Bär hatte es nicht eilig und wir brauchten Wasser zum Trinken und fürs Abendbrot. Nur ungefähr fünfzig Meter trennten uns von dem großen Schwarzbären, Kevin war sichtlich überzeugt ich wolle ihn umbringen, der Bär jedoch schenkte uns nicht mehr als einen müden Seitenblick. Es war ein einmaliger Moment, der das Gefühl der Abgeschiedenheit in dieser wilden Natur um ein Vielfaches vertiefte. Am Fluss suchten wir eine Stelle, die tief genug, aber auch ausreichend in Bewegung war, füllten unseren Falttank und warfen einige Chlortabletten hinein. Der Bär war währenddessen weiter nach Osten gezogen und wir wanderten entlang seiner frischen Spuren zurück zum Camp und sahen, wie er in der Ferne entlang des Waldes verschwand. Trotz der Abreise der beiden Frauen, waren wir nicht ganz alleine: drei junge Männer hatten dort, wo der Bär zuvor gefressen hatte, mittlerweile ihre Zelte errichtet. Wir entschlossen uns wegen des Regen und Windes unser Zelt im Wald aufzubauen und kochten uns danach am Strand eine warme Mahlzeit und Tee. Wir beobachteten die Sonne, wie sie langsam hinter den Bäumen verschwand und den ganzen Strand in ein orange-rotes Feuerwerk verwandelte. In diesem Moment hatte sich die ganze harte Arbeit des Tages mehr als gelohnt.

Der nächste Tag begann früh für uns, als die ersten Sonnenstrahlen unsere Lichtung im Wald erreichten war an Schlaf nicht mehr zu denken. Die erste Nacht hatte uns ohnehin nicht den benötigten Tiefschlaf beschert. Ein Marder, den wir abends am Strand beobachtet hatten, hatte immer wieder seine Runden um unser Zelt gedreht und aus meiner Isomatte war, wie befürchtet, die komplette Luft entwichen, zusätzlich hatten wir die Lautstärke unterschätzt, mit der die Wellen bei Flut an den Strand rauschten.  Doch obwohl die Nacht auch das erste Mal beunruhigende Gedanken zuließ wie: „Was tun wir eigentlich in einem medizinischen Notfall?“ oder „Wir sind hier wirklich ganz alleine ohne Mobilfunk, ohne Kontakt zur Zivilisation und niemand vermisst uns für die nächsten paar Tage.“, der Morgen brachte uns mit Vogelgezwitscher, Meeresrauschen und dem Rauschen der Bäume den ultimativen Seelenfrieden. Wir kochten uns abermals eine kleine Mahlzeit, dieses Mal allerdings auf dem Stahlcontainer, da wir die Gaskartusche mit unseren Händen warmhalten mussten, die frostigen Temperaturen hielten die Flamme klein und es dauerte ewig Wasser zu kochen. Wir aber waren gespannt auf die Wanderung des Tages: von Nels Bight wollten wir zum berühmten Cape Scott Leuchtturm, eine Tagestour von insgesamt etwa vier Stunden hin und zurück. Der Weg schlängelte sich immer nah am Wasser entlang, abwechselnd ging es mitten durch den Wald oder an rauen Sandstränden entlang. Zahllose Wasservögel tummelten sich in der nahrungsreichen, kalten Brandung und der Weg wurde gesäumt von sehr frischem Bärenhinterlassenschaften und Spuren, die ein massiger Körper gerade erst in den Schlamm gedrückt hatte. Wir waren also laut, unterhielten uns durchweg und gingen langsam, um den Bären im Notfall nicht zu erschrecken. Doch einen Bären sahen wir nicht, stattdessen trafen wir am Guise Bay zwei verängstigte französische Wanderer, die dem Bären scheinbar begegnet waren. Sie waren erleichtert, als wir ihnen mitteilten, dass der Weg hinter uns frei war, es gab schließlich keine alternative Route. Nicht lange und wir hatten den kleinen Leuchtturm und die fünf umliegenden Häuschen erreicht. Doch die Aussicht war bescheiden, den ganzen Tag hingen schon schwere Nebelschwaden tief in den Kronen der Koniferen. Wir schwatzten noch kurz mit dem Wärter des Leuchtturms, nur am Rande einer der letzten bemannten Leuchttürme im Westen Kanadas, und kehrten zurück. Der Leuchtturmwärter berichtet uns von einem großen Schwarzbärenmännchen, den er in den letzten Tagen häufiger gesehen hatte, es handelte sich wahrscheinlich um den Bären, den wir Tags zuvor beim Grasen beobachtet hatten.

Am abendlichen Lagerfeuer, das wir aus feuchtem Treibholz irgendwie in Gang bekamen, hatte sich der Himmel wieder aufgeklärt. Wir verschlangen gierig unsere Tütenmahlzeit und unternahmen danach einen langen Spaziergang entlang des Strandes im goldenen Schein der Abendsonne. In den Gezeitenbecken, die sich an den felsigeren Abschnitten des Strands gebildet hatten, beobachteten wir Anemonen, kleine Fische und Einsiedlerkrebse, die emsig ihrem Tagwerk nachgingen. Die andere Gruppe am Strand war aufgebrochen und so verbrachten wir diese Nacht ganz alleine an diesem Ende der Welt. Doch wir waren glücklich: all diese grenzenlose Schönheit der Natur und wir hatten sie nur für uns. Die Nacht wurde wieder hart, mit ihrem luftigen Inhalt verlor meine Matratze auch ihre isolierende Wirkung und ich fror stark und schlief wenig und so mussten wir uns leider am nächsten Tag eingestehen, dass es klüger wäre zurückzugehen und statt an Nissen Bight, am San Josef Bay in der Nähe des Parkplatzes noch eine Nacht zu verbringen. Traurig packten wir unsere sieben Sachen und bauten das Zelt ab und machten uns auf den diesmal über zwanzig Kilometer langen Rückweg, da wir noch etwas weiter runter nach Süden gehen würden. Doch das Wetter war endlich wieder traumhaft und tatsächlich hatten wir so viele Begegnungen mit Menschen, die gen Norden wanderten, dass wir beinahe froh waren, früher aufgebrochen zu sein. Wir besuchten auf dem Rückweg alle Highlights des Trails, die wir auf dem Hinweg aus Zeitgründen links liegen lassen hatten: Standorte alter Siedler-Häuser und sogar einer Kirche, von denen aber kaum noch etwas übrig war und imposant hochgewachsene Douglasien, die so riesig waren, dass man keine Chance hatte sie mit den Armen zu umfassen. Wir genossen die Natur und die Wanderung trotz der schweren Rucksäcke im Rücken und als wir endlich am späten Nachmittag am Strand von San Josef Bay ankamen, waren wir überwältigt von der Schönheit der Natur. Nun konnte ich Kevin endlich erzählen, dass ich etwa zehn Kilometer zuvor einen Bären gesehen hatte, ich hatte extra geschwiegen, weil ich Kevin nicht beunruhigen wollte: der Bär hatte etwa drei Meter abseits des Weges gestanden und uns fest im Blick, doch ich hatte ihn auch erst erkannt, als ich fast auf seiner Höhe war. Er schien sich vor uns zu verstecken und als wir an ihm vorbei waren, rannte er, ohne sich noch einmal umzusehen, den Weg in die entgegengesetzte Richtung zurück und das völlig geräuschlos. 

Der Strand war gut besucht für eine so abgelegene Stelle der Welt und das Erste, worauf die anderen Besucher uns aufmerksam machten, waren natürlich: Bären. Am westlichen Ende des Strandes grasten sie in einiger Entfernung. Wir beobachteten sie eine Weile durch unser Fernglas und holten uns dann zunächst frisches Wasser von einer Quelle und bauten unser Zelt am Rand des Waldes auf, von wo man einen guten Blick über den Strand hatte. Nun da unser Lager errichtet war brachen wir aufgeregt auf, um diesen wunderschönen Strand zu erkunden. Hohe Felswände türmten sich an vielen Stellen auf, manche hatte das Meer so weggewaschen, dass sie wie gemeißelte Säulen in den Himmel emporragten, auf denen vereinzelte kleine Bäume ihre Zweige gen Sonne reckten. Die Wände des Felsen waren mit Seepocken bedeckt, die anzeigten, wie hoch die Wellen gewöhnlich an die riesigen Felsen schlugen. Grüne und violette Anemonen streckten im Salzwasser ihre Fangarme nach Futter aus und winzige Einsiedlerkrebse suchten unter ihnen nach Schutz vor den Möwen, die über unseren Köpfen schreiend ihre Beobachtungsflüge machten. Es war wundervoll mit nackten Füßen durch den feinen Sand zu wandern und in den Wellen am Strand die Füße im Boden versinken zu lassen. Bis die Nacht hereinbrach wanderten wir so am Strand entlang, redeten über Gott und die Welt oder genossen die Geräuschkulisse der Natur. Erschöpft vom langen Tag kochten wir vor unserem Zelt ein kleines Abendessen und genossen den Sonnenuntergang. Ich lag später eine ganze Weile wach, weil mir die Nacht ungewöhnlich hell erschien. Erst Tage später fanden wir heraus, dass in dieser Nacht die Nordlichter bis weit in den Süden sichtbar waren, doch unser Zelt war genau in die falsche Richtung ausgerichtet und so schlief auch ich ein, unwissend über das Naturspektakel, dass den Himmel über uns erfüllte. 

Alle guten Dinge müssen ein Ende haben und so packten wir am nächsten Tag schweren Herzens unser Campingequipment ein letztes Mal zusammen und wanderten zurück zum Auto. Zu meiner großen Freude hatte mein Zettel Wirkung gezeigt oder es hatte einfach niemand den Wert in unserem alten Auto gesehen, er stand jedenfalls noch so da, wie wir ihn verlassen hatten. Doch für uns war gleich klar, dass das nicht unser letzter Ausflug in den Cape Scott Provincial Park gewesen sein konnte. Wir müssen immer noch den North Coast Trail gehen, Wölfe an den endlosen Stränden beobachten und tagelang in der unberührten Natur unterwegs sein. Wir werden zurück kommen und das nächste Mal auch mit einer Matratze, die ihre Luft bei sich behält. 

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